Wir wohnen am Waldrand. Direkt gegenüber von uns liegt eine wunderschöne Grünfläche. Man spaziert dort – oft mit einem Eis in der Hand. Viele Menschen gehen mit ihren Hunden spazieren.
Wir wohnen hier, seit Lucie ein Jahr alt ist – also bald seit zehn Jahren. Zur Grünfläche hin gibt es einen Bürgersteig. Etwa 40 cm nach der hohen Bordsteinkante verläuft durchgängig eine circa 12 cm hohe Stange.
Das bedeutet für uns: eine doppelte Barriere. Lucie ist im Rollstuhl unterwegs. In den ersten Jahren, in denen wir hier leben, heben wir sie einfach drüber. Aber Lucie wird größer, älter.
Ihre Freundinnen spielen drüben – schauen links, schauen rechts, es kommt kein Auto: »Komm, wir gehen Blumen pflücken!« – »Ah, da ist Herr Niens mit seinem Hund JohnBoy, komm, wir gehen ihn streicheln.«
Auf dem Weg wird Fahrrad gefahren, mit Murmeln gespielt, es gibt kleine Kinderverkaufsstände. Man pflückt Brombeeren an der Hecke, veranstaltet Wasserspritzpistolen-Schlachten.
Kurz: Es gibt immer einen Grund, zur Grünfläche zu gehen. Sonne, Sommer, auf der Wiese sitzen.
Irgendwann kommt Lucie in das Alter, in dem sie das auch selbst tun könnte. Links, rechts – kein Auto – ich flitze über die Straße, um dabei zu sein, bei dem, was dort drüben passiert. Und das passiert oft. Täglich. Ganzjährig.
Es macht mich jedes Mal traurig – mein Herz wird schwer –, wenn Lucie sich entschlossen auf den Weg macht. Sie kann sich entscheiden: nach links oder rechts, jeweils etwa 100 Meter. Dort kann sie dann queren und wieder zurück – dahin, wo sie eigentlich hinwollte.
Nach links gibt es eine Querung, die auf eine stärker befahrene Straße trifft, aber immerhin ist sie besser einsehbar. Nach rechts quert man an einer ruhigeren Stichstraße – dort liegt auch ein Spielplatz.
Mal hier, mal dort – Lucie fährt einen Umweg, um wieder dorthin zurückzufahren, wo sie eigentlich sein möchte: mittendrin, beim Spiel, beim Geschehen.
Manchmal sind die anderen Kinder schon weitergezogen, wenn sie ankommt. Manchmal nicht. Dann aber geht es vielleicht kurz ein Eis holen oder im Sommer etwas Wasser – oder man muss einfach schnell aufs Klo. Es gibt viele Gründe, mal eben rüber zu flitzen – wenn man es kann. Oder einen Umweg zu machen, wenn man es eben nicht kann.
Ein Stück weiter auf derselben Straße gibt es mittig eine Übergangsstelle – dort ist der Bordstein abgesenkt. An einer kleinen Stelle fehlt auch die Stange.
Das wäre es doch. Sollte eigentlich kein Problem sein.
Auch Menschen mit Kinderwagen oder ältere Personen mit Gehhilfen würden davon profitieren.
Lucie ist immer öfter unterwegs. Und neben dem Gedanken »Es könnte doch einfach einfacher sein« kommt wirklich noch etwas sehr wichtiges hinzu: Der abgesenkte Bereich ist leider oft – genau genommen meistens – zugeparkt. Von Autos, die ja auch irgendwo stehen müssen.
Meistens kommt Lucie da schon irgendwie vorbei und vom Bürgersteig runter. Aber wenn ich jetzt erwähne, wie klein so ein Mädchen im Rollstuhl ist, das vorsichtig neben beispielsweise einem VW-Bus hervorrollen muss, um zu schauen, ob sie queren kann – es ist gefährlich. Verdammt noch mal. Das leuchtet doch jedem ein. Oder etwa nicht?
Weil ich nicht genau weiß, wer zuständig ist, schreibe ich im April 2023 erstmals an verschiedene Stellen in der Stadt Düsseldorf. Ich erkläre die Situation, schicke Fotos, zeichne Wege in Karten, bereite Informationen sorgfältig auf – alles, damit die Situation nachvollziehbar ist. Ich frage freundlich, ob sich da vielleicht etwas machen lässt. Erfrage Zuständigkeiten.
Es kommen viele automatische Antworten.
Irgendwann schreibt das Gartenamt, das Verkehrsamt werde sich bald melden.
Dann – eine Antwort:
Sehr geehrte Familie,
vielen Dank für Ihre E-Mails vom 26.04. und 22.05.2023, die zuständigkeitshalber an uns, das Amt für Verkehrsmanagement, weitergeleitet wurden.
Der Verkehr und die Verkehrsplanung beschäftigen viele unserer Bürgerinnen und Bürger – auch uns liegt dieses Thema sehr am Herzen. Wir freuen uns über engagierte Hinweise und Anregungen wie die Ihren.
Wir bitten um Verständnis, dass eine individuelle Prüfung viel Zeit in Anspruch nimmt – daher erfolgt unsere Rückmeldung erst jetzt.
Die Problematik der fehlenden barrierefreien Querungsmöglichkeit ist der Verwaltung bekannt.
Aus diesem Grund wurde der Einmündungsbereich Gutenbergstraße / Böcklinstraße im Zuge der Planung der Radleitroute Ost untersucht.
Geplant ist, an der Einmündung Böcklinstraße vorgezogene Bordsteine („Gehwegnasen“) anzulegen, um die Sichtbarkeit der querenden Fußgängerinnen sowie Rollstuhlfahrerinnen zu verbessern und das Parken im abgesenkten Bereich zu verhindern. Zudem ist eine barrierefreie Überquerung mit abgesenktem Bord und taktilen Leitelementen zum gegenüberliegenden Spielplatz vorgesehen.
Wir bitten um Ihr Verständnis, dass eine kurzfristige Umsetzung nicht möglich ist.
Der Zeitplan sieht derzeit eine Umsetzung im Sommer 2024 vor.
Mit freundlichen Grüßen.
Im Auftrag
Wir bekommen oft, sehr oft, ungläubige Zustimmung, wenn wir Lucie über die Barriere heben – oder wenn gesehen wird, was es für sie bedeutet, dort zu queren.
»Das kann ja nicht sein.« – »Das muss doch gehen.«
Wir bekommen viel Zuspruch, viel Verständnis.
Dann ist ein Nachbarschaftsfest auf der Grünfläche.
Eine Frau stellt mich einem lokalen Politiker vor. Er ist nett, interessiert, kommt mit uns zur besagten Stelle und macht sich selbst ein Bild. Auch ihm leuchtet alles ein – die Erschwernisse, die Gefahr.
»Das muss doch machbar sein.« – »Wie lange wohnen Sie schon hier?«
Ein paar Tage später meldet er sich. Jemand vom Straßenamt sei ohnehin vor Ort gewesen, habe sich die Situation angeschaut – das sei ja, O-Ton: »Pipifax«. Der Antrag sei im Stadtteil einstimmig beschlossen worden, nun sei Amt 66 dran. Hoffentlich bald.
Freude. Pipifax. Bald wird’s einfacher.
Ich mache den Fehler und erzähle Lucie sofort davon.
»Wirklich? Die Stange kommt weg?« – »Ah Mama, ich freu mich!«
Dann, im November, kommt die nächste Mail:
Antrag erneut Abgelehnt.
Hierzu teilt die Verwaltung mit:
Querungsmöglichkeiten bestehen bereits in etwa 90 Metern in nördlicher Richtung (Höhe Graf-Recke-Straße) sowie in etwa 100 Metern in südlicher Richtung (Höhe Böcklinstraße).
Im Rahmen der Planung der Radleitroute Ost wird die Querung an der Einmündung Böcklinstraße deutlich verbessert. Geplant ist ein vorgezogener Seitenraum („Gehwegnase“) für bessere Sichtbarkeit und eine barrierefreie Gestaltung mit taktilen Leitelementen.
Aufgrund dieser bestehenden und geplanten Maßnahmen sieht die Verwaltung keine Notwendigkeit für eine zusätzliche Querung.
Die Umsetzung ist für Sommer 2024 vorgesehen – man bittet noch um etwas Geduld.
Zu früh gefreut. Schade.
Uns wird empfohlen, uns an den Behindertenrat zu wenden.
Ich schreibe. Bereite Informationen, Fotos etc. erneut auf. Schicke sie los.
Der nette Politiker meldet sich auch nochmals. Es tue ihm wirklich leid. Vielleicht könnten wir zu einer Versammlung kommen – – heute Abend? jemand Wichtiges sei da. Vielleicht könnte Lucie ihr Anliegen dort selbst schildern. Oder Sie schreibt nocheinmal einen Brief. Malt vielleicht auch noch ein Blümchen dazu?
Bitte?
Im Mai 2024 kommt schließlich diese Mitteilung:
Im April hat die Vorsitzende des Behindertenrats der Stadt Düsseldorf, Ihre Anfrage an mich weitergeleitet. Ich habe diese dem Amt für Verkehrsmanagement übergeben. Die Antwort lautet wie folgt:
Auf der Gutenbergstraße wird voraussichtlich Ende des Jahres eine Fahrradstraße errichtet.
Im Rahmen der Planung fanden zwei politische Markttage statt, an denen Bürger*innen und Politik in Austausch traten. Am ersten dieser Markttage wurde der Wunsch nach einer sicheren Querung geäußert.
Diesem Wunsch kommt die Fachverwaltung nach: Der Seitenraum wird zulasten von zwei Parkplätzen vorgezogen und barrierefrei ausgebaut.
Dadurch sollen die Sichtbeziehungen für zu Fuß Gehende sowie Rollstuhlfahrende erheblich verbessert werden.
Auf die Frage nach der Stange und dem Absenken des Bürgersteigs wird erneut wieder nicht eingegangen.
Mich erreichen solche Nachrichten meist inmitten anderer Themen. Aber sie gehen direkt tief.
Und sie tun weh.
Auf die letzte Mail konnte ich zunächst gar nicht antworten. Ich habe geweint. Alles raus.
Dann habe ich das Thema beiseitegelegt. Ich habe es versucht. Da waren Menschen, die haben es mit uns versucht. Darüber bin ich froh. Und dankbar.
Im Herbst/Winter ist die Situation nicht ganz so präsent wie im Frühling oder Sommer.
Jetzt sehe ich drüben die ersten Blümchen. Der Frühling ist da.
Der Sommer kommt. Geschehen ist noch nichts. Keine Veränderung bei den Querungsmöglichkeiten.
Die meisten Freundinnen begleiten Lucie selbstverständlich auf ihren Umwegen. Ein-, zwei-, dreimal. Beim vierten Mal am Tag dann aber doch lieber nicht mehr. Verständlich. Tut aber trotzdem weh.
Kann vielleicht doch mal jemand nachts kommen mit der Flex?
MakeLoveGreatAgain – warum denn nicht einfach mal machen?
Ist doch Pipifax – und wäre doch gelacht!
sf | May 5, 2025